Ein Blick aus Brüssel auf unsere Heimat

NETWORK: Liebe Marie Michelle, du hast in den letzten drei Jahren einiges an Lebens- und Berufserfahrung in ver- schiedenen Ländern sammeln können und bist momentan in Brüssel tätig. Erzähl doch mal, wie es dich dorthin verschlagen hat.

Marie Michelle: Die Gelegenheit nach Brüssel zu gehen hat sich für mich in Spanien ergeben. Während meines Auslandspraktikums in Salamanca lernte ich eine Frau kennen, die bereits in Brüssel bei einem europäischen Verband berufstätig war. Durch sie erfuhr ich von der Möglichkeit in Brüssel zu arbeiten und gab ihr meinen Lebenslauf mit. Nachdem sie meinen Lebenslauf an Ihr Netzwerk in Brüssel weitergegeben hatte, erhielt ich von einem deutschen Verband ein Jobangebot und begann direkt nach dem Abschluss meiner Ausbildung meinen ersten Job in der belgischen Hauptstadt. Nach Brüssel haben mich damit mehr oder weniger persönliche Kontakte und ein bisschen Glück gebracht.

NETWORK: Du hast also in den letzten Jahren verschiedene Kulturen kennengelernt. Welche Unterschiede sind dir zwischen den Ländern im Vergleich zu Deutschland und insbesondere zu unserer Heimat Waldeck-Frankenberg aufgefallen?

Marie Michelle: Zum einen ist mir aufgefallen, dass sich die Stereotypen, die wir insbesondere von Spaniern und Franzosen haben, oft nicht bestätigen. Gerade in Spanien, wo man vermutet, dass alles sehr entspannt abläuft und die lange Siesta zur Mittagszeit zum täglichen Programm gehört, überraschte mich der strukturierte und organisierte Tagesablauf. Die typische Siesta trifft man nur noch in wenigen Branchen. Was aber durchaus zutrifft ist, dass in Spanien Pünktlichkeit nicht ganz so wichtig ist. Die meisten Spanier kommen grundsätzlich eine Viertel- bis Halbestunde zu spät. Bei mir waren sie zwar meistens pünktlich, vermutlich aber, weil sie wussten, dass in Deutschland Pünktlichkeit großgeschrieben wird. Dafür können wir von den Spaniern einiges an Lebensfreude lernen. Während wir Deutschen uns gegen 18 Uhr am Abend vermutlich eher zurückziehen und den Abend daheim ausklingen lassen, zieht es die Spanier zu dieser Uhrzeit auf die Straße, um sich mit Familie, Nachbarn und Freunden auszutauschen.

NETWORK: Und wie sieht es im Vergleich von Belgien zu Deutschland aus?

Marie Michelle: Was mich in Belgien manchmal stört ist, dass simple Sachen viel Zeit benötigen. Diese Zeit könnte man besser nutzen, wenn man nicht so sehr auf Bürokratie beharren würde. Tipps in diese Richtung etwas zu verbessern stoßen selten auf offene Ohren und nach dem Motto “das ist schon immer so” bleibt es meist bei der festgefahrenen Routine. Die Belgier nehmen das aber eher gelassen hin und haben sich wohl damit abgefunden. Während ich mich als Deutsche eher aufrege, reagieren die Belgier vollkommen entspannt.

NETWORK: Auch wenn wir uns die Belgier in diesem Punkt nicht zum Vorbild nehmen sollten, gibt es Dinge, die wir und insbesondere unser Landkreis von Brüssel lernen könnte?

Marie Michelle: Ja, auf jeden Fall! Die Offenheit der Menschen in Brüssel gegenüber anderen Kulturen und Einstellungen, die begeistert mich wirklich. In Brüssel wohnen fast mehr Ausländer als Einheimische selbst und man wird generell herzlich aufgenommen. Neben einer großen deutschen Gemeinschaft sind auch andere Kulturkreise vertreten und man profitiert von der Verschiedenheit dieser Kulturen. Beispielsweise bietet Brüssel ein großes kulinarisches Angebot sowie Konzert- und Theateraufführungen der unterschiedlichsten Art. Solche Ansätze wünsche ich mir auch für unsere Heimat. Es ist wichtig sowohl als Einheimischer als auch als Zugezogener am Kulturaustausch interessiert zu sein und fremden Menschen, wie beispielsweise auch Flüchtlingen, offen gegenüberzustehen.

NETWORK: Marie Michelle, auch wenn du dich offensichtlich wohlfühlst im Ausland, was würde den Landkreis für dich beru ich attraktiv machen?

Marie Michelle: Eine Rückkehr nach Waldeck-Frankenberg schließe ich zunächst einmal nicht grundsätzlich aus. Allerdings ist es mir wichtig, meine Sprachkenntnisse auch beruflich anwenden zu können und mit Kollegen aus dem Ausland zusammenzuarbeiten. Für mich kommt daher wohl nur eine Tätigkeit in einem international agierenden Unternehmen in Betracht. Unser Landkreis bietet jedoch auch dafür einige Perspektiven. Ein großes Plus ist zudem die Landschaft mit den Seen und den zahlreichen Möglichkeiten zum Entspannen und Sport machen. Mir fehlen allerdings momentan die kulturellen Möglichkeiten. Diese anzubieten sehe ich sowohl als Aufgabe der Stadt/des Landkreises als auch als Aufgabe der Bürger.

Marie Michelle Döring hat der Veröffentlichung dieses Interviews zugestimmt und sämtliche Rechte daran an NETWORK waldeck|frankenberg abgetreten. Eine anderweitige Verbreitung oder Verwendung obiger Inhalte ist nur nach schriftlicher Genehmigung gestattet.

Zur Person:

Marie Michelle Döring, geboren 1990 in Bad Arolsen, absolvierte 2009 ihr Abitur an der Alten Landesschule Korbach und ging im selben Jahr als Au-pair nach Frankreich. Nach einem Jahr in der Normandie begann sie eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin an den Semperschulen in Dresden. Während der Ausbildung absolvierte sie unter anderem ein Inlandspraktikum beim Auswärtigen Amt in Berlin sowie ein 6-monatiges Auslandspraktikum an einer Sprachschule in Salamanca, Spanien. Seit ihrem Abschluss Anfang 2013 arbeitet sie für zwei deutsche Verbände in Brüssel, Belgien.